Nachrufe

Susanna Diem (1934–2024)

Susanna Diem (1934–2024)

Immer auf dem neusten Stand

Sie hätte eigentlich ein Abzeichen verdient, meinte Susanna Diem lachend, schliesslich sei sie seit 54 Jahren Mitglied der SGV und der Sektion Basel. So empfing die damals 88-Jährige in ihrer Wohnung voller Kunst, Bücher und Erinnerungsstücken und servierte Tee im schwarzen Wedgwood Service ihrer Mutter. Seit ihrer Pensionierung im Jahr 1994 war sie auch im Vorstand der Sektion Basel aktiv. Ihre Offenheit und ihr profundes Wissen zur Volkskunde, aber auch zu Themen wie Musik, machten sie zu einem stets gern gesehenen Gast und einer spannenden Gesprächspartnerin. Sie war nicht aufgrund ihrer wissenschaftlichen Ausbildung dem Verein beigetreten, sondern aus Interesse an den Menschen und ihrem Alltag. 

Viele der Themen, die uns heute umtreiben, kannte die Zürcherin bereits aus ihrer Kindheit und Jugend. Wenn uns aktuell Krieg und Klimawandel zwingen, die Heizung herunterzudrehen oder die Badewanne zu meiden, um Strom- und Heizkosten zu sparen, erzählte Susanna von den sogenannten Kohleferien, die sie noch erlebt hat. In den Jahren 1946/47 blieben die Schulen und Universitäten in der Schweiz monatelang geschlossen, um Brennstoffe und damit Heizkosten zu sparen. Mit diesen Zwangsferien war für die damals 12-Jährige jedoch auch ein positives Erlebnis verbunden. Ihre Mutter, eine Davoserin, besass ein kleines Familiengut in der Nähe ihres Heimatdorfs. So verbrachte Susanna Diem Wochen in den Bündner Bergen. Die Gegend war zu ihrer zweiten Heimat geworden. 

Die junge Susanna ging noch in der Zürcher Arbeitstracht zur Schule. Die Gotte aus Davos hatte im Münstertal weben gelernt und den Stoff eigens für ihr «Gottemeitli» gewoben. Überhaupt besass sie noch einige Trachten: Für das Zürcher Sechseläuten bekam sie eine Wehntalertracht, und schliesslich durfte sie auch die Walsertracht von ihrer Gotte übernehmen, die diese anlässlich des Jubiläums 500 Jahre Zehngerichtebunds getragen hatte. 

Nach der Schule absolvierte Susanna Diem eine Ausbildung als Laborantin am Kinderspital Zürich. Eine Freundin aus dem Labor schickte sie eines Tages an einen Vortrag der SGV. Susanna hat das so gut gefallen, dass die Freundin sie daraufhin zur Aufnahme vorschlug. Für angeworbene Mitglieder bekam man nämlich ein Buch geschenkt. So kam Susanna Diem 1968 zum Verein. Als scheues neues Mitglied besuchte sie anfangs nur die Jahresversammlungen und dies auch lieber zusammen mit einer Freundin. 1979 wurde ihr damaliger Chef an das Biochemische Institut der Universität Basel gerufen und Susanna Diem folgte ihm in die Stadt am Rheinknie. Dank der SGV kannte sie bereits einige Menschen in Basel und fühlte sich bald daheim. Nach zehn Jahren konnte sie ein Haus in der Nähe des Schützenmattparks erwerben, dessen Dachgeschoss sie bis zu ihrem Tod bewohnte. Das Haus hat keinen Lift und war ihr Fitnessprogramm, wie sie lachend bemerkte.

Für die Wahl-Baslerin waren die 24 Reisen, die die SGV zwischen 1996–2019 angeboten hatte, ein ganz besonderer Höhepunkt. Sie hatte keine einzige verpasst. Während die erste Reise mit Paul Hugger noch eine «Reise zu den Nachbarn» war, führte der folgende Reiseleiter, Tommy Wiskemann, seine Gäste schon weiter weg ins Piemont, nach Dresden oder nach Rumänien. Nach zehn Jahren übernahm Hansueli Vollenweider die Reiseleitung und legte unter anderem einen Schwerpunkt auf Reisen in den Osten. Zwischen 2009 und 2011 besuchten die Teilnehmenden Lettland, Estland, Slowenien und die Ukraine. Susanna Diem stand bis zuletzt noch in Kontakt mit jener ukrainischen Studentin, die damals die lokale Reiseleitung übernommen hatte. 

Etwas vom Beeindruckendsten war für Susanna Diem die Reise nach Lettland und Litauen. Alle fünf Jahre finden in den baltischen Ländern riesige Versammlungen für Laienchöre statt, wie eben das Liederfest in Lettland. Für die lettische Bevölkerung spendeten die mündlich überlieferten Lieder stets Trost und Halt in schweren Zeiten. Volkslieder hielten ihre Kultur und Sprache in Zeiten staatlicher Unterdrückung am Leben. Während der «Singenden Revolution» von 1989 beteiligte sich Lettland gemeinsam mit Litauen und Estland am gewaltlosen Widerstand gegen die Sowjetunion und den Kampf um staatliche Unabhängigkeit. An der Grossveranstaltung 2009, so erzählte es Susanna Diem, versammelten sich sämtliche Chöre – es dürften an die 30'000 Menschen gewesen sein – in einer riesigen Musikmuschel, um gemeinsam zu singen. Alle Letten trugen selbstverständlich ihre Trachten, und die Frauen schmückten ihr Haupt mit einem Blumenkranz. Wenn Susanna Diem davon erzählte, konnte man die Kraft, die von diesen Gesängen ausging, noch immer spüren.

Grosse Reisen waren mit zunehmendem Alter nicht mehr zu bewältigen. Aber noch immer besuchte sie viele Exkursionen und Vorträge der SGV, war Gastgeberin für die Vorstandssitzungen der Sektion Basel und liebte es, Konzerte zu besuchen. Ihre Neugier war ungebremst und die Lebensfreude, die sie versprühte, war ansteckend. Dank der SGV pflegte sie bis zu ihrem Tod viele Kontakte zu Menschen aus ganz unterschiedlichen Generationen. Dass sie für ihr Amt im Vorstand der Sektion Basel noch gelernt hatte, einen Computer und ein Buchhaltungsprogramm zu bedienen, war ihr fast nicht der Rede wert – aber genau dank dieser offenen Art und ihrem grossen Wissensdurst war Susanna Diem bis ins hohe Alter stets auf dem neusten Stand. 

30. April 2024 | Sibylle Meier

Hans Schnyder (1925-2023)

Hans Schnyder (1925-2023)

Zum Tode von Hans Schnyder (19.10.1925 - 13.11.2023)

Dr. phil. Hans Schnyder, Präsident der SGV/SSTP von 1987 bis 1996, ist im hohen Alter von 98 Jahren verstorben. Er war Lehrer und Vizerektor am Gymnasium Bäumlihof gewesen, hatte dort eine intensive Bauphase begleitet und liess sich nach 35 Dienstjahren pensionieren. Sein Freund Prof. Paul Hugger schlug ihn als Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Volkskunde vor. Er wurde 1986 gewählt und folgte Dr. Theo Gantner nach, dem Direktor des Schweizer Museums für Volkskunde (später Abteilung Europa des MKB). Hans Schnyder fand sich schnell in der Gesellschaft zurecht. Dabei konnte er auch auf die Hilfe von Ernst J. Huber zählen, der das lebende Gedächtnis der SGV repräsentierte. In Geschäftsstelle und Institut neu angefangen hatte auch Rosmarie Anzenberger (halbe Stelle); sie lernte sozusagen gemeinsam mit Hans Schnyder die Aufgaben der Gesellschaft für Volkskunde kennen. In Schnyders lange Amtszeit fielen einige Bauernhausbände (u.a. BH VD 1 und 2), wobei auch Dr. Benno Furrer, der Leiter der Bauernhausforschung, diese Stelle 1987 neu angetreten hatte. Dazu kamen unendliche Abklärungen mit der SAGW und dem Nationalfonds, Änderungen in Verlagsauslieferung und Mitgliederverwaltung, u.a. der Wechsel zum Reinhardt-Verlag, und der Abschluss des Atlas der schweizerischen Volkskunde. 1996 konnte die SGV unter seiner Ägide ihren hundertsten Geburtstag feiern. Im Anschluss trat Hans Schnyder von seinem Amt zurück und erhielt die Ehrenmitgliedschaft zugesprochen. Nun hatte er die Musse, in bester Gesundheit zusammen mit seiner Frau seine Tage an ihrem Zweitwohnsitz Menton zu verbringen. 

Rosmarie Anzenberger und Ernst J. Huber

Gotthilf Isler (1930–2022)

Der Verstorbene hat in Zürich bei Richard Weiss Volkskunde studiert und nach dessen frühem Tod bei Arnold Niederer sein Dissertationsvorhaben zur Alpensage der Sennenpuppe weiterverfolgt und abgeschlossen. 1971 gab die Schweizerische Gesellschaft für Volkskunde diese Arbeit im Basler Verlag G. Krebs heraus, eine Studie zur religiösen Funktion von Sagen, in denen, wie Isler zeigen möchte, «der numinose Hintergrund der unbewussten menschlichen Psyche selbst zum Worte kommt». Als engagierter Interpret volkstümlicher Zeugnisse nach tiefenpsychologischer Lesart – gemäss seinem Beruf und, je länger je mehr, seiner mit Ernst und Liebe erarbeiteten Expertise – ist er den Volkskundlern und Volkskundlerinnen des deutschen Alpenraumes in Erinnerung. 

Lesen Sie den ausführlichen Nachruf auf Gotthilf Isler (1930–2022) von Andreas Isler.

Loni Niederer-Nelken (1928–2023)

Zum Tod von Loni Niederer

18. November 1928 – 29. März 2023

Loni Niederer-Nelken wurde im Herbst 1928 in Schwelm, Ruhrgebiet/ Deutschland als erstes Kind des Ehepaars Nelken geboren. Ihr Vater war Schriftsetzer, die Mutter eine tüchtige und sparsame Hausfrau; wenig später bekam Loni einen Bruder. Von ihrer Mutter lernten die beiden Kinder früh Singen, Reime-Aufsagen, Lesen und Schreiben – sogar Verse-Schmieden. Das waren die hellen Momente ihrer Kindheit, die bald vor nationalsozialistischer Hetzerei und kriegerischer Stimmung versteckt werden mussten. Einschränkungen im Alltag, später Ängste vor Bombardements und dann gar Trennung der Kinder von den Eltern, sowie abenteuerliche Rückkehren aus allen Richtungen prägten den familiären Zusammenhalt. Dennoch wurde Loni nach dem Krieg erlaubt, in einem neu gegründeten, aber entfernten Bildungsheim eine Lehre als Bibliothekarin zu machen. Dort kam sie nicht nur mit Gedrucktem, sondern auch mit Musizieren und Singen in engen Kontakt; auch ihr Talent zum Verse-Schmieden konnte sie bei vielen Anlässen ausleben und kam stets gut an.

Damit aber nicht genug: In dieser Bildungsstätte kam sie auch in Kontakt mit vielerlei Berufsgattungen, deren Anliegen und Sitten&Bräuchen, worunter sie sich speziell zu Volksliedern und Volksliteratur hingezogen fühlte. Als sie entdeckte, dass dies akademische Fächer, also «studierbar», waren, schrieb sie sich in Tübingen für Volksliteratur und Volkskunde ein. Hermann Bausinger und Martin Scharfe waren ihre Lehrer; ihr Studium schloss sie zügig ab mit einer Arbeit über populären Wandschmuck, damals ein Volltreffer! Noch nicht genug, Arnold Niederer, der progressive Volkskunde-Professor aus Zürich, hatte in Tübingen auch seine Auftritte: 1969 begegneten sich die beiden zum ersten Mal, und 1972 kam Loni für die Hochzeit und zum Bleiben nach Zürich – aber das war nicht einfach nur ein Bleiben. Ihre Präsenz lässt sich vielmehr als umfassende Assistenz umschreiben: In der bescheidenen Wohnung des Volkskundler-Paares wurde viel gearbeitet, vielerlei vor- und nachbearbeitet, vervollständigt und zum Abschluss gebracht, was sonst in irgendwelchen Schubladen tief vergraben geblieben wäre. So zum Beispiel Teile des Volkskundlichen Atlas der Schweiz, Publikationen über das Wallis, die Realisierung des Lötschentaler Museums, Exkursionsberichte ebenso wie die entsprechenden Vorbereitungen, um nur einiges zu erwähnen. Selber hat Loni all diese Leistungen im Nachruf auf Arnold als ihrer beiden «geistigen Kinder» umschrieben. Zum «Vorzeige-Kind» der Niederers wurde das Lötschentaler Museum in Kippel. Fast alle Studierenden Arnolds absolvierten in den 1970er-Jahren ein Praktikum in diesem Vorzeige-Objekt des Genres, das heute noch oft besucht wird und mit seinen Aktivitäten als mustergültig bezeichnet werden darf.

Arnold Niederer hatte sich in Ferden bereits in den 1950er-Jahren in einem mehr als bescheidenen Chalet, dem sogenannten «Vogelhuis», eingerichtet. Loni sorgte dann für einen zeit- und stilgerechten Ausbau des altehrwürdigen Baus. Nach Arnolds Tod (1998) gründete sie die Arnold-Niederer-Stiftung, Ferden/VS. Diese machte sie zur Besitzerin des Häuschens, das der Allgemeinheit zur Verfügung steht: Wie einst für Arnold und später auch Loni dient es vor allem als Rückzugsort für Forschende, die im authentischen und dennoch bequemen Chalet in aller Ruhe ihrer Arbeit nachgehen können.

Loni selbst löste (kurz nach ihrem 70. Geburtstag) ihren Zürcher Haushalt auf und zog ins altehrwürdige Pfrundhaus Zürich ein. Hier, wieder in einem Kollektiv und befreit von alltäglichen Haushaltspflichten, fühlte sie sich ausgesprochen wohl. Ihre Kreativität und ihren Gemeinsinn setzte sie voll ein für soziale Aktivitäten. Am meisten Freude machten ihr die selbst organisierten Hauskonzerte; sie nahm wieder Gesangsunterricht und trat im eleganten Festsaal des Pfrundhauses auf. In diesem Ambiente und dieser Gesellschaft fühlte Loni sich sehr wohl und fand dank ihrer offenen Gesprächsbereitschaft und ihren diversen Aktivitäten rundum viel Anerkennung.

Ob man das als spezifische «Volkskunde» in einem altersspezifischen Rahmen bezeichnen darf? Jedenfalls passte es so zu Loni und ebenso zu vielen MitbewohnerInnen und Mitarbeitenden – das war eben typisch Loni – und so wird sie uns in guter Erinnerung bleiben!

Männedorf, 25. August 2023
Maja Fehlmann

Hermann Bausinger (1926–2021)

Zum Tod von Prof. Dr. Hermann Bausinger
(17. Sept. 1926 – 24. Nov. 2021)

Dieser Tage ereilte uns aus Tübingen die traurige Nachricht vom Tod Hermann Bausingers. Er verstarb nach kurzer Krankheit im Alter von 95 Jahren in Reutlingen, wo er seit vielen Jahrzehnten in bewusster Distanz zur nahen Universitätsstadt zuhause war. Mit ihm verliert unser Fach nicht nur seinen wichtigsten Erneuerer, sondern die deutschsprachige Öffentlichkeit auch einen der sichtbarsten Kulturwissenschaftler. Die Beiträge des bis zuletzt produktiven vielseitigen Forschers und Lehrers haben dem Denken und Reden über Kultur und Alltag einen prominenten Platz in den Medien gesichert.

Schon mit seinen frühen Schriften zum «Lebendigen Erzählen» und zur «Volkskultur in der technischen Welt» hat er das volkskundliche Arbeiten revolutioniert. Mit dem produktiven Kreis «seines» LUI, des Ludwig-Uhland-Instituts, hat er später dazu beigetragen, dass das Fach von Tübingen ausgehend als «Empirische Kulturwissenschaft» eine neue Richtung nahm und auch einen neuen Namen bekam. Dabei agierte er stets als umsichtiger Revolutionär, der entschieden, aber zugleich bedächtig zu argumentieren wusste und dem das Mitnehmen wertvoller Traditionen stets ein Anliegen war. Seine Absage an eine völkisch verklärende Wissenschaft und vor allem an den unreflektierten Umgang mit diesem schwierigen Erbe war immer von präzisen Analysen und einer unvergleichlichen Kenntnis der vielfältigen Wissensbestände sowohl der älteren als auch der neueren Popularkulturforschung geprägt.

Hermann Bausinger, der von seiner Berufung bis zur Emeritierung 1992 das Ludwig-Uhland-Institut leitete, ist nicht zuletzt dank der Übersetzung seiner klassischen Bücher in zahlreiche Sprachen in der ganzen Welt als Leitfigur der «neuen Volkskunde» und als gewichtiger Erzählforscher bekannt. Es spricht für seine Vielfalt und seine zeitlebens an den Tag gelegte Neugier und Schaffenskraft, dass vermutlich die Leserinnen und Leser seiner Werke in Asien und Übersee wenig wissen von dem «anderen» Bausinger, der nicht nur auch ein universeller Landeskundler Baden-Württembergs war, sondern zuletzt die wohl bekannteste lebende Legende der Universität Tübingen. Beim Publikum der in der Universitätsstadt beliebten Studium Generale-Vorlesungen war er auch noch als Emeritus ebenso geschätzt wie bei den Kindern der Stadt, denen er im Rahmen der Kinderuni vergnüglich (und mit bunter Bommelmütze) näherzubringen wusste, was es mit einem guten Witz auf sich hat.

Der Schweizer Fachlandschaft war Hermann Bausinger zeitlebens aufs Engste verbunden. Über den Tod von Richard Weiss informierte er 1962 «sein Institut», das gerade mit Helmut Dölker auf Exkursion war, sogar via Telegramm. Das Schweizerische Archiv für Volkskunde verdankt ihm wichtige Beiträge wie die vielzitierten «Funktionen der Mode» oder «Tradition und Modernisierung»; und auch zu Zeiten, in denen im Fach manche Brüche die Kommunikation erschwerten, stand er sowohl mit der Zürcher Volksliteraturforschung als auch der in Basel und Zürich betriebenen Volkskunde in fruchtbarem Austausch. Noch in einer Nachricht auf die Glückwünsche des Zürcher Instituts zu seinem 95. Geburtstag im September erwähnte er mit gewohntem Witz den «gut funktionierenden Schonraum mit dem Dreieck Wien / Zürich und Basel / Tübingen, in dem – nicht nur linguistisch gesehen – unsere provinzielle Sprache nicht auffiel und dennoch eine weitere Sicht möglich wurde». Hermann Bausingers letzter grosser Auftritt in der Schweiz war der Festvortrag beim Kolloquium zum 100. Geburtstag von Arnold Niederer 2014. Der dafür gewählte Titel «ein Brückenbauer» beschreibt treffend auch den jetzt Verstorbenen, dem dieses Fach nicht nur inhaltlich enorm viel verdankt, sondern wohl auch, dass es heute so anerkannt, vielfältig und lebendig ist wie selten zuvor.

Bernhard Tschofen

Ein ausführlicher Nachruf wird in einer der nächsten Nummern des Schweizerischen Archivs für Volkskunde erscheinen.

Albert Spycher Gautschi (1932–2020)

Wer sich für Schweizer Traditionsgebäcke oder für bestimmte alte Handwerke und Berufe interessiert, kommt selten an Publikationen von Albert Spycher vorbei und gewinnt dann den Eindruck, dass er durch das Vorgelegte oft erschöpfend bedient wird. Am 21 November 2020 ist Albert Spycher nach einem reich erfüllten Dasein verstorben.

Lesen Sie den Nachruf auf Albert Spycher-Gautschi (1932–2020) von Dominik Wunderlin im Schweizerischen Archiv für Volkskunde 117:1 (2021), S. 75–84.

Meinhard Schuster (1930–2021)

Zum Tod von Meinhard Schuster

Ein Nachruf von Thomas Waldmann, erschienen am 13. März 2021 in der Basler Zeitung
Der Ethnologe Meinhard Schuster war während 30 Jahren Professor an der Universität Basel.
Er war für viele eine wegweisende Instanz, ein Vorbild. Meinhard SchustersHauptaugenmerk galt den Menschen und ihrem Platz in der Gemeinschaft: auf Expeditionen am Sepik-Fluss in Neuguinea und im südvenezolanischen Regenwald, oder wenn er zu ethnografischen Feldübungen im elsässischen Töpferdorf Soufflenheim anregte.
Den Jäger, die Sammlerin, den Schnitzer, die Pflanzerin, die Hüterin der Nahrung, oder den Töpfer als sprechende und schöpferisch schaffende Individuen in ihrer Lebensweise zu verstehen und ihre Eingebundenheit in Dorf- und Clanstrukturen, in Mythologie und Ritual zu zeigen, war ihm wichtiger als theoretische Forschungssysteme. Als akademischer Lehrer ging er auf seine Studierenden zu, zugänglich auch ausserhalb der Lehrveranstaltungen, war er massgeblich an der familiären Atmosphäre im Ethnologischen Seminar am Basler Münsterplatz beteiligt. Dem Journalisten und Autor dieser Zeilen gewährte er Zugang zu Seminaren und Vorlesungen und verhalf so zu Einblicken in ethnologische Zusammenhänge. «Ja, kommen Sie doch», lautete sein mehrfach geäusserter, aufmunternder Satz.
Meinhard Schuster, der in seinem 91. Lebensjahr in Basel verstorben ist, wurde am 17. Mai 1930 in Offenbach am Main geboren. Er studierte in Frankfurt, promovierte über die Kopfjagd in Indonesien und wurde Assistent am Frobenius-Institut in Frankfurt am Main. Seine erste Feldforschung führte ihn 1954/1955 zu den bis dahin kaum erforschten Waika, einer Gruppe der Yanomami am Orinoco in Südvenezuela. 1961 bereiste der Forscher erstmals Neuguinea.
1965 kam Schuster nach Basel und wurde Leiter der Ozeanien-Abteilung am Völkerkundemuseum, dem heutigen Museum der Kulturen. Mit Teilen seiner Südamerikaforschung habilitierte er sich für die Universität Basel und war von 1970 bis 2000 als ordentlicher Professor für Ethnologie tätig. 1978/1979 war er zudem Dekan der Philosophisch-Historischen Fakultät und von 1984 bis 1986 Präsident der Schweizerischen Ethnologischen Gesellschaft. 1985 wurde er mit seiner Frau Gisela ins Basler Bürgerrecht aufgenommen.
Die 2012 verstorbene Gattin begleitete ihn auf vielen Reisen, auch an den Sepik-Fluss, wo sie gemeinsam eine Dokumentation über das Töpferdorf Aibom erarbeiteten, mit Erkenntnissen zu Feuerschalen, die symbolisch eine Muttergottheit darstellen Sie war auch die treibende Kraft zur Erhaltung seiner Tagebücher, die derzeit aufgearbeitet werden.
Schuster beeinflusste aktiv den Aufbau des Zentrums für Afrikastudien in Basel und führte 1989 gemeinsam mit dem Kunsthistoriker Gottfried Boehm ein Seminar über aussereuropäische Kunst durch. Es gilt heute als Keimzelle für spätere Publikationen und Ausstellungen.
Der Ethnologe warnte vor Entwicklungen, die man von aussen an Kulturen heranträgt, ohne die innere Vernetzung eben dieser Kulturen zu berücksichtigen. Und er bewies Humor – etwa bei der Präsentation historischer Quellen über ein Bärenfest in Ostsibirien, an dem der Bär zu küssen sei. Wer Meinhard Schuster erlebt hat, als Forscher, Lehrer und als Zeitgenosse, wird ihn nicht vergessen.

Theo Gantner (1931–2021)

Zum Tod von Theo Gantner

Am 11. März ist Dr. Theo Gantner, Alt Präsident 1982-1986 und langjähriges Mitglied der SGV, verstorben. Ein Nachruf von Dominik Wunderlin, pens. Leiter der Abteilung Europa am Museum der Kulturen, erschienen am 22. März 2021 in der bz Basel. 

Zumindest für Aussenstehende recht überraschend verschied am vergangenen 11. März in Muttenz eine Persönlichkeit, die als akademisch geschulter Volkskundler über lange Zeit und wiederholt durch seine wissenschaftlichen Leistungen weit über Basel hinaus für Aufmerksamkeit gesorgt hatte. Theo Gantners Weg in ein Basler Museum, ins heutige Museum der Kulturen, war für den stark katholisch geprägten Sarganserländer nicht vorgegeben.
Geboren am Dreikönigstag 1931 im Bergdorf Flums SG unterrichtete er zwischen 1950 und 1963 in verschiedenen Schulen, zuletzt am Progym in Muttenz. Ab 1961 studierte er in Basel Volkskunde, Soziologie und Ethnologie und ebenso ein Semester lang in Tübingen, wo er seine spätere Frau Hildegard Schlee kennen lernte. Zur Weiterbildung trat er 1963 in die Abteilung Europa ein und assistierte den aus Walenstadt stammenden Robert Wildhaber. 1967 promovierte Gantner mit der Dissertation «Volkskundliche Probleme einer konfessionellen Minderheit, dargestellt an der römisch-katholischen Diaspora der Stadt Basel».
Gemeinschaft und Gruppe blieben auch ein wichtiges Thema in seiner Zeit (1968-1996) als Leiter der Abteilung Europa, die sich damals noch selbstbewusst «Schweizerisches Museum für Volkskunde» nennen durfte. Ausstellungen zu Freimaurern und Service-Clubs, zu Jugendvereinen, zu den Handwerksgesellen auf der Walz, zum Couleurstudententum und zu Gewerkschaften sorgten für Aufmerksamkeit und zeigten auf, dass ein Volkskundemuseum auch jenseits des traditionellen Kanons etwas zu sagen hat.
Dies bewies er ebenso bei einem zweiten Schwerpunkt seiner Ausstellungstätigkeit, nämlich mit seinen vorbildhaften Auseinandersetzungen mit populären Bildmedien (Wandschmuck, Kalenderillustrationen, Festumzugsdarstellungen). Mehrfach griff er dabei Themen auf, die vergleichbare Häuser im In- und Ausland erst Jahre später zur Ausstellung bringen sollten. Pionier war er auch beim Aufbau der ersten digitalen Sammlungsdatenbank in einem Basler Museum.
Der Verstorbene war Lektor an der Universität Basel und aktiv in zahlreichen Gremien, so bei der Schweizerischen Gesellschaft für Volkskunde, bei der Stiftung Brotkultur Schweiz, in Kommissionen anderer Museen, bei der katholischen Landeskirche BL, bei den Alt-Hatstättern und beim Rotary Club. In den letzten Jahren machte ihm das schwindende Augenlicht zunehmend Probleme. Er hinterlässt zwei Kinder und mehrere Enkelkinder.

Lesen Sie auch den Nachruf von Christine Burckhardt-Seebas in SAVk 2/2021: 
Eine sozial denkende Museumsvolkskunde. Zum Tod von Theo Gantner (1931–2021)